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Nebelkrähen und Kolkraben: Eine Metapher für den Umgang mit Stress im Kita-Alltag

  • Gesundheit
  • Thema
  • 18 Okt. 2024
Die Begriffe „Stress“ und „Stressbewältigung“ werden seit einiger Zeit im Zusammenhang mit dem verbreiteten Phänomen Burnout diskutiert. Dabei gilt Stress als negativer Reiz für den uns zur Bewältigung – laut den Gesundheitskassen - eine Vielzahl an Entspannungstechniken wie Yoga, Waldbaden, Joggen zur Verfügung stehen. Die andere Perspektive, die positive Wirkung von Stress auf unseren Kampfesgeist, sollten wir aber in der Gesundheitsförderung gleichwohl berücksichtigen, denn über sie können neben der Selbstwahrnehmung weitere Stärken aufgebaut werden.

Diesen Perspektivwechsel auf die positive Seite von Stress möchte Dr. Barbara Reinsch anhand einer Begegnung mit einem Raben auf einem Herbstspaziergang darstellen, bei der sie sich in einer unerwarteten und „stressigen“ Situation wiederfand. Dabei stehen die erwähnten Raben für Stressoren, d. h. Stress auslösende Reize, die wir im Alltag auch in anderen Situationen erleben:

Regelmäßige Spaziergänge in der Umgebung Berlins mit meiner Hündin Penni sind mir ein großes Bedürfnis. Sie bringen mich auf neue Gedanken. Meine Aufmerksamkeit liegt zunächst ganz bei meiner Bewegung im Naturraum und den wackelnden Ohren meiner Hündin. Meine Kreativität wird angeregt, ich empfinde Freude und fühle mich zunehmend entspannter. Auf unserer Runde begegnen wir regelmäßig einer wachsenden Kolkrabenkolonie. Die 65 cm großen Tiere beobachten uns aufmerksam – ohne einen Warnruf. Ich freue mich darüber, in ihrem Revier geduldet zu sein.

An jenem Sonntag wählte ich ein völlig anderes Terrain in einem neu angelegten Park. Der Empfang einer Nebelkrähe überraschte mich. Sie flog lauthals krähend auf meinem Kopf zu, verfolgte mich, als ich ihr das Landen nicht ermöglichte, aber sie unternahm weitere Versuche. Ich fühlte mich herausgefordert, ihr meine Grenzen zu zeigen. Jedoch bewirkten meine Reaktionen wie schnelleres Gehen, ruhiges, aber deutliches Zureden, Schwingen der Arme, gemeinsames Stehenbleiben mit meiner Hündin und schließlich lautes Rufen, nichts. Meine Perspektive auf die Situation hatte sich innerhalb weniger Minuten geändert. Es fehlte mir an Orientierungspunkten, um das Verhalten einordnen zu können. Meine Handlungsfähigkeit hatte sichtbar abgenommen, was mich überforderte.  Mir blieb schließlich nur die Flucht. Und ich hatte damit Erfolg. Schließlich wollte ich meine Empörung über das Verhalten des Vogels teilen und nach Erklärungen suchen. Denn meine Runden unter Vögeln wollte ich mir nicht nehmen lassen. Meine Ressource war der ortsansässige Stadtjäger. Der Austausch half mir, mich wieder zu orientieren. Obwohl eine vergleichbare Verhaltensauffälligkeit ihm bisher nicht gemeldet wurde, vermutete er, dass der Vogel von mir gefüttert werden wollte. Dieser Erklärungsansatz bestätigte mein Wissen und so machte ich mich am Nachmittag wieder mit meiner Hündin stressfrei auf die gewohnte Runde zu meinen Kolkraben.

Kolkraben und Nebelkrähen sind vielleicht seltene Stressoren, aber die erfolgreiche Bewältigung einer ungewohnten Situation beginnt immer mit einer Bewertung der Gegebenheiten: Welche Ressourcen stehen mir zur Verfügung, um mit der Stresssituation umzugehen? Kann ich kämpfen oder sollte ich fliehen?

Welche Ressourcen sollten nun in der Gesundheitsförderung im Fokus stehen? „Raben“, d. h. Stressoren gibt es ja viele… und die Entspannungstechnik „Spazierengehen im Naturraum“ allein ist kein Patentrezept. Drei wesentliche Aspekte können wir aus salutogenetischer Perspektive für die gesundheitsfördernde Gestaltung des Alltags für Kinder – und dazu zählt auch der Umgang mit Stress – anhand des obigen Beispiels ableiten:

  1. Werden in Lernarrangements die Bedürfnisse von Kindern, wie zum Beispiel ihre Spielfreude, ihr Spielverhalten, ggf. die Spielpartner und der Spielraum berücksichtigt, wird eine erhöhte Motivation bei der selbstständigen Gestaltung und / oder Veränderung einer ungewohnten Spielsituation gegeben sein. Diese Situationen verlaufen dann in der Regel stressfrei.
  2. Aufmerksame Beobachtungen dienen der pädagogischen Fachkraft als Grundlage in der Einschätzung des Entwicklungsstandes der Zielgruppe, um Über- und Unterforderung bei der Gestaltung von Lernarrangements für die Zielgruppe zu vermeiden. Sie achtet darauf, dass die Handlungsfähigkeit der Zielgruppe gesichert ist, indem sie die Lebensnähe von Bildungsangeboten berücksichtigt. Sie stellt z. B. eine Vielfalt an Materialien und Gegenständen und Bildern im Alltag zur freien Verfügung und ermöglicht auf diese Weise sinnliche Erfahrungen und ggf. den Gewinn neuer Erkenntnisse. Der von der pädagogischen Fachkraft gesteckte zeitliche Rahmen lässt es zu, dass Kinder die Tätigkeiten wiederholen, um Inhalte zu verstehen und zu verinnerlichen. Sie achtet darauf, dass die Inhalte in Teilschritten selbstständig vom Leichten zum Schwierigen erfolgen können. Solche didaktischen Voraussetzungen sichern im besten Fall, dass sich Kinder selbstwirksam erleben, sie sich ihrer Fähigkeiten bewusstwerden, also ihre eigenen Ressourcen erkennen und mit Selbstvertrauen sich neuen Aufgaben stellen und langfristig ein positives Selbstkonzept entwickeln. Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung beschreibt die hierbei aufgebauten Kompetenzen zusammenfassend unter dem Begriff „Lebenskompetenzen“.
  3. Orientierungshilfe kann eine aufmerksame und wertschätzende pädagogische Fachkraft geben, die Partizipation ermöglicht, offen ist für die Ideen und Vorschläge der Zielgruppe, als Impulsgeber neue Perspektiven eröffnet und unterstützend tätig ist.

Welche „Nebelkrähen“ begegnen Ihnen im beruflichen Alltag und wie können Sie die Handlungsfähigkeit der Kinder sichern? Schreiben Sie uns in den Kommentaren.


Autorin: Dr. Barbara Reinsch, Dozentin in der Erzieher:innenausbildung mit Naturprofil an der Fachschule für Sozialpädagogik der Stiftung SPI in Berlin 

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